Zur Einleitung: Im Gegensatz zu unseren üblichen Texten, die eher vorsichtig abwägend sind, diesmal eine scharfe Kritik. Warum: Bei fachlich oder politisch unterschiedlichen Sichtweisen, würde ich keine Rezension schreiben. Wenn ein Buch aber sehr verzerrt und - würde den Empfehlungen gefolgt - Menschen gefährdet gleichzeitig aber behauptet, den Forschungsstand zu beschreiben, scheint mir Klartext angezeigt. Johannes Gärtner
Rezension
Das Buch „Schichtarbeit und Gesundheit - Aktueller Forschungsstand und praktische Schichtplangestaltung“ von Jan Kutscher und Julia Marie Leydecker (Springer Gabler 2018) behandelt das Themenfeld in großer Breite. Das Buch versucht, den Forschungsstand zur Schichtarbeit zu beschreiben und geht mit der Forschung hart ins Gericht. Beides misslingt.
Erstens: Arbeiten werden sehr verzerrt dargestellt. Z.B. wird zum Themenfeld „Dauernachtarbeit“ die Arbeit von Arlinghaus et al (2016), an der ich persönlich beteiligt war, so wiedergegeben:
Seite 93: „… Wer auf klare Gestaltungsempfehlungen – bzw. ein klares Ja oder Nein zur Dauernachtschicht – hofft, wird enttäuscht.“, Seite 95: „… In ihren Empfehlungen sprachen sie sich nicht für oder gegen die Dauernachtschicht aus.“
Auf Seite 6 des Originals findet sich die Empfehlung: „Bei höherem Nachtanteil sollte die Arbeitszeit sinken (z.B. sollten Zuschläge in Zeit statt in Geld vergolten werden) …“ (siehe Original) - Ganz anders als im Buch dargestellt, ist das eine klare Gestaltungsempfehlung: Keine Dauernachtarbeit in Vollzeit.
Zweitens: Das Buch ist unseriös: Literatur wird einseitig und unvollständig aufgearbeitet . Auf Seite 70 findet sich der Satz "Eine Meta-Analyse zum Zusammenhang zwischen Nacht- und Schichtarbeit sowie Unfällen haben wir nicht gefunden." Das sagt viel über die Recherche und wenig über den Forschungsstand aus. ZB Folkard & Lombardi (2006), aktualisiert durch Fischer et al. (2017), haben durchaus Risikoschätzer für Unfälle im Zusammenhang mit Schichtarbeit aus mehreren Studien gerechnet und erhöhte Risiken bei Nachtarbeit gefunden. Für die Diskussion des Forschungsstandes zum Riesenthema „Unfälle und Schichtarbeit“ wurden nur drei Forschungspapiere im engeren Sinn verwendet (eines davon aus 2006!), deren Auswahl aus tausenden im Dunkeln bleibt. So eine Literaturarbeit zur Sichtung des Forschungsstandes würde für keine Bachelorarbeit reichen, selbst wenn sie nur einen Bruchteil des Gebiets umfasste, auch schon bei einer Studienarbeit hätte ich Zweifel. Zusätzlich werden Gefahren heruntergespielt: Dass Rauchen viel schlimmer als Nachtarbeit ist, macht Schichtarbeit nicht ungefährlich.
Zusatzmaterial zu diesem Thema siehe unten.
Drittens: Das Buch kritisiert ein Bild der Wissenschaft als ginge es um eine homogene, abgeschlossene Gruppe (z.B. Seite 6 „Kulissen der Arbeitswissenschaft …“). Das ist nicht die Realität der Arbeitszeitsymposien oder der Working Time Society (WTS). Letztere sind die größten und wichtigsten Konferenzen zum Thema Arbeitszeit und Schichtarbeit. Dort wird unaufgeregt diskutiert und zu vielen – aber eben nicht allen – Punkten gibt es unterschiedliche Meinungen. Peer-reviews und kritische Diskussion zwingen, Gegenargumente zur eigenen Meinung zu bedenken. Auch einige PraktikerInnen betreiben Forschung und stellen sich der Diskussion. Ebenso gibt es ForscherInnen, die zusätzlich praxisorientiert beraten. Es ist ein Übergangsfeld. Im Gegensatz zu derartigem wissenschaftlichen Arbeiten werden im Buch starke Behauptungen ohne Beleg aufgestellt: Z.B. wird auf Seite 2 behauptet „die“ Arbeitswissenschaftler suchten nach dem „One best Way …“. Was hat z.B. Unfall- oder Krebsforschung mit „One best Way“ zu tun?
Viertens: Es geht im Buch schlussendlich um die Frage der Praxis: wissenschaftliche Empfehlungen umzusetzen, ohne die konkrete Situation zu bedenken, ohne Dialog und Prüfung, wäre – wie das Buch zu Recht kritisiert – schlecht. Das macht und vertritt aber meines Wissens kein/e anerkannte/r ArbeitszeitberaterIn oder ForscherIn. Falls es vorkommt, gehört es kritisiert.
Aus diesem zwar eher fiktiven aber sicherlich abzulehnenden Extrem wechselt das Buch in ein anderes, ebenfalls abzulehnendes Extrem: Die Gestaltungsempfehlungen einfach zur Seite zu schieben (Seite 114: „Deswegen erscheint es unsinnig, konkreten arbeitswissenschaftlichen Empfehlungen ... zu folgen, ohne dabei zunächst auf sich selbst hören.“). Viele der Risiken z.B. Unfallgefahren, sind individuell kaum beobachtbar, trotzdem wirken sie und sie zu ignorieren schädigt Schichtarbeitende.
PD Dr. Johannes Gärtner
Obmann der Arbeitszeitgesellschaft, TU Wien, XIMES GmbH – Erstversion 13.3.2018 - später ergänzt
PS: Auch wenn die Schärfe der Rezension verwundern mag, ging dieser kein Konflikt voran.
Zusatzmaterial zum Thema "Arbeitszeit und Unfallrisiko":
Ein Artikel von Wagstaff et al aus dem Jahre 2011 wird im Buch S. 70 folgendermaßen besprochen:
"In einem Übersichtsartikel haben Wagstaff und Sigstad (2011) aus 6889 gesichteten Veröffentlichungen 14 systematisch herausgefiltert, die sich mit Zusammenhängen zwischen Schicht- und Nachtarbeit sowie langen Arbeitszeiten auf der einen Seite und Sicherheitsaspekten auf der anderen Seite befassten. In ihrer Gesamtschau kamen sie zu dem Ergebnis, dass rotierende Schichtarbeit mit Nachtschichten ein (wegen der Unterschiedlichkeit der herangezogenen Studien nicht weiter quantifiziertes) „substanzielles Risiko für Unfälle“ mit sich bringe, wohingegen Dauernachtarbeit „einen gewissen Schutz gegen diesen Effekt“ darstelle, den die Autoren auf die mit Arbeit in nur einer Schichtlage verbundene „Resynchronisation“ zurückführten (Wagstaff und Sigstad 2011, S. 185 [eigene Übersetzung]). Generell bemängelten sie in den zugrunde gelegten Studien, meist Querschnittsstudien, vor allem die oft nur unzureichend erfassten Daten zu Schichtarbeit und Arbeitszeiten, und meist handelte es sich auch bei allen anderen Angaben um – nicht weiter überprüfte – Selbstauskünfte der Befragten (Wagstaff und Sigstad 2011, S. 181)."
Hier das Original: Wagstaff AS, Sigstad Lie J-A (2011) Shift and night work and long working hours – a systematic review of safety implications. Scand J Work Environ Health 37:173–185
Die Darstellung im Buch erwähnt nicht, dass zwar viele Schwächen aber auch gute Arbeiten im Feld vorliegen:
„The general findings of this study (…) are based on 14 studies that were scored as being of a high quality (…) out of 43 studies that resulted from our selection process.“ (Wagstaff & Sigstad Lie, S. 181)
Die Darstellung im Buch bringt keine Information zu einem zentralen Ergebnis des Artikels – dem Risiko langer Schichten. Hier die Ausschnitte aus dem Abstract:
"Results Both shift work and long working hours present a substantial and well-documented detrimental effect on safety − all the studies that are included in this review have one or more significant findings in this respect."
"Conclusions The findings are most relevant to safety-critical activities such as the transport and health sectors. Work periods >8 hours carry an increased risk of accidents that cumulates, so that the increased risk of accidents at around 12 hours is twice the risk at 8 hours. Shift work including nights carries a substantial increased risk of accidents, whereas “pure” night work may bring some protection against this effect due to resynchronization. The evaluated studies give no clear indications of any age or gender being specifically susceptible to or protected against the effects of work times scheduling on accident risk."
Auch der Abschlusssatz in den Concluding Remarks von Wagstaff & Sigstad Lie schiene erwähnenswert, um den Forschungsstand kennen zu lernen – leider wurde er nicht wiedergegeben:
"Since the epidemiological evidence of shift work and long work hours on safety is rather clear, future studies should focus more on mechanisms and improvement strategies. Standardization of exposure and outcome variables would also make it easier to compare results between different sectors." (Wagstaff & Sigstad Lie, S. 185; eigene Hervorhebung)
Die geschätzten LeserInnen mögen selbst entscheiden, ob die Besprechung im Buch wesentliche Ergebnisse und die Richtung der zitierten Arbeit angemessen widerspiegeln. Aus meiner Sicht wird hier der Forschungsstand zu diesem Thema im Buch von Kutscher & Leydecker nicht abgebildet.
Quellen:
Arlinghaus, A., Gärtner, J., Rabstein, S., Schief, S., Vetter, C. (2016): Dauernachtarbeit – Eine Sichtung des vorhandenen Wissenstandes mit Thesen, Empfehlungen & Forschungsfragen. SOZIALPOLITIK.CH 2/2016, 1–11
Fischer, D., Lombardi, D. A., Folkard, S., Willetts, J., Christiani, D. C. (2017): Updating the “Risk Index”: A systematic review and meta-analysis of occupational injuries and work schedule characteristics; in: Chronobiology International, 34(10), 1423-1438
Folkard, S., Lombardi, D. (2006): Modeling the Impact of the Components of Long Work Hours on Injuries and ‘‘Accidents’’. American Journal of Industrial Medicine 49, 953–963
Wagstaff AS, Sigstad Lie J-A (2011) Shift and night work and long working hours – a systematic review of safety implications. Scandinavian Journal of Work, Environment & Health 37, 173–185
Kritische Buchrezension zu "Schichtarbeit und Gesundheit" von Jan Kutscher und Julia Marie Leydecker: